Integrative Gestalttherapie


Die Integrative Gestalttherapie ist ein phänomenologisch-hermeneutisches Verfahren. Sie betrachtet den Menschen als untrennbare Einheit körperlicher, seelischer und geistiger Prozesse und als unauflöslich mit seiner ökologischen und sozialen Umwelt verschränkt.
In ihrer Theoriebildung beruft sich die Integrative Gestalttherapie u.a. auf Phänomenologie und Hermeneutik, auf Gestalttheorie, Feldtheorie und die Beziehungstheorien von M. Buber und G. Marcel. Die IGT geht prozessorientiert vor, wobei der Wahrnehmung des aktuellen Kontakts und der Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn/PatientIn besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Techniken werden prozessorientiert eingesetzt. Arbeit mit kreativen Medien und dem leeren Stuhl, Körper- und Bewegungsarbeit spielen neben verbalen Vorgangsweisen eine große Rolle. Ziel der integrativ-gestalttherapeutischen Arbeit ist es durch ganzheitliche Evidenzerfahrung Leidenszustände zu überwinden oder zumindest zu lindern und Einsicht in das eigene Gewordensein und Sinnerleben zu fördern.



Was ist eine Gestalt?


Der Begriff Gestalt stammt aus der Wahrnehmungspsychologie.


1. Fragestellung:


Das Problem bzw. die Frage, die die Wahrnehmungspsychologie im 19.Jhdt. beschäftigte, war, ob die sinnliche Wahrnehmung aus Einzelreizen aufgebaut wird, wie es die Assoziationspsychologen behaupteten, oder ob wir Ganzheiten wahrnehmen.

Der Begriff  Gestalt wurde von Christian von Ehrenfels, der u.a. an der Universität Graz lehrte, Ende des 19. Jhdts. eingeführt. Er bezeichnete damit strukturierte Ganzheiten, die wir „unmittelbar“, d.h. ohne intellektuelle Verarbeitung wahrnehmen.

Er schrieb der Gestalt zwei Eigenschaften – Gestaltqualitäten – zu: Übersummativität und Transponierbarkeit: eine Gestalt ist mehr und etwas anderes als die Summe ihrer Teile und sie kann „transponiert“ werden, d.h. auch wenn alle Einzelteile ausgetauscht werden, wie z.B. bei der Transponierung einer Melodie in eine andere Tonart, bleibt die Gestalt – in diesem Fall die Melodie – erhalten.

Dasselbe Phänomen wird in anderen Wissenschaften ebenfalls beschrieben und definiert:

- Kybernetik/Systemtheorie: System ist ein Set von Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen den Objekten und ihren Merkmalen.

- Biologie/Philosophie: Organismus ist eine Ganzheit, deren Teile einander wechselseitig Ursache und Wirkung sind. (I. Kant)

- Physik: Feld ist eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig betrachtet werden. (A. Einstein)


2. Fragestellung:


Die zweite Frage war, was Wahrnehmung eigentlich ist, was in der Wahrnehmung passiert. (Dies ist eigentlich ein erkenntnistheoretisches Problem, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass Wahrnehmung etwas zur Welterkenntnis beiträgt.) Dazu wurden unterschiedliche Antworten entwickelt. Es gab mehrere Schulen der Gestaltpsychologie: die Grazer, die Berliner, die Leipziger Schule, deren theoretische Positionen nicht deckungsgleich waren. Z.B. gab es eine Auseinandersetzung, ob die „Gestalten“ in der Natur schon vorhanden sind, oder ob das Bewusstsein sie im Wahrnehmungsakt „produziert“.

Der Wahrnehmungsakt besteht laut Gestaltpsychologie darin, dass das Bewusstsein das Wahrnehmungsfeld in Figur vor Hintergrund differenziert. Diese Figur-Hintergrund-Konstellation wird als Gestalt bezeichnet.

Es gibt also eine gewisse Doppeldeutigkeit des Gestaltbegriffs, der sich auch noch in der aktuellen Literatur widerspiegelt: Gestalt als

- übersummative und transponierbare Ganzheit

- im Wahrnehmungsakt entstehende Figur-Hintergrund-Konstellation.


3. Anwendung:


Kurt Lewin, eine der „Quellen“ des Gestaltansatzes, übertrug den Gestaltansatz in die Verhaltenspsychologie: Der Organismus und die Umwelt bilden ein Feld. Je nach Bedürfnis- bzw. Interessenslage strukturiert der Organismus das Feld unterschiedlich, d.h. etwas anderes wird jeweils Figur.

Fritz Perls übernahm den Gestaltbegriff für seine Therapieform und verwendete ihn unscharf:

- Anthropologisch: Der Mensch ist eine Gestalt (ein Organismus).

- Klinisch: Gesund ist, wer prägnante Gestalten bilden kann, d.h. wer fähig ist, klar zu erkennen, welches Bedürfnis momentan im Vordergrund (= Figur) ist, sodass er es befriedigen kann, damit sich die „offene Gestalt“ wieder schliessen kann, d.h. dass die Figur wieder im Hintergrund verschwindet, um einer neu auftauchenden Platz zu machen.

- Er bezeichnete auch Erlebnisse als „Gestalten“: die Erlebnisgestalt ist geschlossen, wenn alles, was zum Erleben gehört (Wahrnehmung, voller Kontakt, Ausdruck) vorhanden ist. „Offene“ Erlebnisgestalten führen zu Spannung und neurotischen Reaktionen.


4. Beispiel:


Natürlich kann ich eine Figur, die im Wahrnehmungsprozess entsteht, in sich wieder als Gestalt (=Figur-Hintergrund-Konstellation) betrachten und sie wieder in Figur und Hintergrund differenzieren:

Ich nehme meine Klientin wahr (als Figur vor dem Hintergrund meines Arbeitszimmers; die Gesamtansicht Klientin im Zimmer ist die Wahrnehmungsgestalt. Wenn eine laute Fliege meine Aufmerksamkeit erregt, ändert sich die Gestalt: Die Fliege wird Figur, die Klientin Teil des Hintergrunds.) Ich konzentriere mich auf ihre Stimme. (Die Figur Klientin ist meine neue Gestalt, die sich in die Figur Stimme und Hintergrund Aussehen, Körperhaltung,…differenziert.)

Ihr Sprechtempo fällt mir auf. (Die Figur Stimme wird zur Gestalt, diese differenziert sich in Figur Sprechtempo und Hintergrund sprachlicher Inhalt, Stimmfärbung,..)

Ich bemerke, dass sie sich zum Einatmen keine Zeit nimmt. (Die Figur Sprechtempo wird zur Gestalt und differenziert sich in Figur Atemrhythmus vor Hintergrund Sprechfluss.)

Usw., usw., es handelt sich um einen ununterbrochenen Wahrnehmungsfluss, der unaufhörlich Gestalten (Figuren vor Hintergründen) bildet und mehr oder weniger unbewusst vor sich geht.

Da es immer auch von mir und meiner Aufmerksamkeit abhängt, was Figur wird, könnte man sagen, das Bewusstsein „konstruiert“ die Gestalt (= Figur vor Hintergrund) in einem „dialogischen“ Prozess mit der Umwelt.

© 2019 Praxis Liselotte Nausner